In der medizinischen Behandlung von Sterbenden, Krebspatienten im Endstadium und Patienten mit anderen lebensbedrohenden Erkrankungen, ist es nicht immer einfach zu wissen, wann genug Medizin ist. Umso wichtiger ist es, dass Mediziner, Patienten, Angehörige und Krankenkassen am gleichen Strang ziehen.
Die letzte Erinnerung an meinen Großvater ist ein gespenstisches Bild. Es hat sich vor dreißig Jahren in mein Gehirn gebrannt. Der sehr alte Mann liegt sterbenskrank auf der Intensivstation, sein Körper an allerlei lärmende Maschinen angeschlossen. Das Gesicht ist fahl und aufgedunsen, ohne jede Regung.
Lebt Großvater noch? fragte ich mich damals und suchte nach einer Antwort. Später, als sein Tod offiziell war, stand in der Familie eine andere Frage im Zentrum: Haben die Maschinen Großvater am friedlichen Sterben gehindert? Einige äußerten sogar den Verdacht, die Ärzte hätten aus rein finanziellen Interessen das Leben qualvoll verlängert.
Diese Gedanken sind Ausdruck davon, dass wir Großvaters Behandlung als übertrieben und unnötig empfanden. Heute würde man von Übertherapie am Lebensende sprechen. Dass das ein weitverbreitetes Problem ist, ist unbestritten.
Das Zuviel an Medizin in der letzten Lebensphase hat nicht nur mit unserer Angst vor dem Tod, sondern auch mit Versagensängsten der Ärzte und finanziellen Fehlanreizen zu tun.
Eine intensive medizinische Versorgung am Lebensende, die nur den Prozess des Sterbens verlängert, lehnen die meisten Menschen ab. Laut den Ergebnissen einer Umfrage in den USA trifft das auch für die Ärzte zu – zumindest immer dann, wenn diese selbst im Sterben liegen.
Bei ihren Patienten scheinen viele Mediziner aber nach einer anderen Maxime vorzugehen. Jedenfalls bekundeten etliche der an der Erhebung beteiligten Ärzte die Bereitschaft, sterbenskranke Patienten auch dann noch aggressiv zu behandeln, wenn sich diese ausdrücklich gegen solche Maßnahmen ausgesprochen hatten.
Knapp 90 Prozent der befragten Ärzte, wünschten im Falle einer eigenen tödlichen Erkrankung keine aggressiven Therapien. Weshalb sie dann ihren Patienten eine solche Behandlung zumuten würden, geht aus der Erhebung nicht hervor. Laut den Studienautoren liegt dies unter anderem daran liegen, dass die moderne Medizin auf „Maximal-Therapie für alle“ gerichtet ist. Ärzte werden zudem nicht für Aufklärungsgespräche am Krankenbett bezahlt, sondern für medizinische Prozeduren. Die letzten Monate vor dem Tod sind daher besonders teuer. Ergebnisse, die sich in Deutschland reproduzieren lassen.
Diese Kräfte sind auch bei Krebskranken wirksam. Das zeigt eine weitere Studie aus den USA, deren Ergebnisse auf Deutschland übertragbar sind. Für ihre Analyse haben die Forscher die Therapien von mehr als 100 000 Patienten mit Krebs im Spätstadium studiert. Diese hatten bei der Diagnosestellung bereits Fernmetastasen und waren innerhalb eines Monats tot.
Trotz der terminalen Prognose erhielten etliche Patienten noch medizinische Behandlungen: Operationen, Chemo-, Antikörper- und Strahlentherapien oder Hormone.
Die Schuld an dieser Entwicklung nur bei den Ärzten zu suchen, ist nicht gänzlich richtig. Der Behandlungsentscheid steht auf zwei Säulen: der medizinischen Indikation und der Zustimmung des Patienten. Während Ersteres die Domäne der Ärzte ist, liegt Letzteres in der Verantwortung des Patienten, der dafür über seine Krankheit und die Therapiemöglichkeiten aufgeklärt werden muss.
Dass das nicht immer gelingt, liegt nicht nur an den Medizinern. Es gibt auch Patienten, die wollen nicht hören, dass man in ihrem Fall medizinisch nichts mehr tun kann. Diese Leute verdrängen die unangenehmen Fakten und klammern sich an jeden Strohhalm. Eine Chemo- oder Strahlentherapie kann dann leicht als Zeichen fehlgedeutet werden, dass der Tumor heilbar ist, während der Arzt die Behandlung aus palliativen Gründen einsetzen will, um zum Beispiel Skelettschmerzen zu lindern.
In vielen Ländern müssen Patienten darum kämpfen, das medizinisch Notwendige zu erhalten. In Deutschland und anderen Ländern, die über einen hohen medizinischen Versorgungsstandard verfügten, ist das Gegenteil der Fall. Denn nicht nur zu wenig, auch zu viel Medizin ist unethisch. Übertherapie ist nicht noch bessere Medizin oder noch mehr vom Guten, sie schadet.
Die von der complex care solutions GmbH angebotenen Zweimeinungsverfahren, sind der Schlüssel zur Korrektur von Fehlentwicklungen und Fehlanreizen auf individueller und institutioneller Ebene, sowie einem transparenten Umgang mit Interessenkonflikten.
Im Zweitmeinungsverfahren werden im Erstgespräch die Patienten und deren Angehörige in der zumeist sehr leidvollen Situation aufgefangen und ohne Zeitdruck oder zeitliche Begrenzung die momentane medizinische aber vor allem menschliche Situation eruiert. Wir treffen auf Patienten, die seit langer Zeit kaum oder keine ausführlichen Gespräche mit den behandelnden Ärzten geführt haben. Therapievorschläge und Behandlungen werden als alternativlos wahrgenommen und können von Patienten und deren Angehörigen oft nicht nachvollzogen werden. In der anschließenden fachmedizinischen Begutachtung der individuellen Fälle, wird der Fokus auf die medizinische Sinnhaftigkeit der geplanten oder durchgeführten Behandlungen gelegt. Primat ist dabei die Fragestellung, ob mit den Maßnahmen ein adäquates Therapieziel verfolgt wird – im Rahmen der Intensivmedizin zumeist mit der Fragestellung, ob überhaupt noch ein rationales Therapieziel vorliegt. Ziel des formulierten Zweitmeinungs-Gutachtens ist, den Patienten und seine Angehörigen ein rationales und realistisches Bild über die durchgeführten oder geplanten Behandlungen zu geben und Alternativen aufzuzeigen. Für den Patienten und seine Angehörigen sollen „alle Karten auf dem Tisch liegen“ damit sie informierte und mit den eigenen Vorstellungen korrespondierende Entscheidungen treffen können. Besonders wichtig ist für die Patienten und deren Angehörigen zu wissen, dass die fachmedizinische Zweitmeinung von unabhängiger, dritter Seite erfolgt. Auf dieser Basis können Patienten und Angehörige informierte Entscheidungen treffen. Es zeigt sich, dass Patienten in den letzten Behandlungsstadien ein mehr oder den Erhalt der bestehenden Lebensqualität einer Maximal-Therapie vorziehen. Auf Basis der Zweitmeinung können Patienten diese Entscheidung fundiert und informiert treffen. In abschließenden Gesprächen begleiten wir den Entscheidungsprozess und schließen das Zweitmeinungsverfahren ab. Der konsequente Einsatz des Zweitmeinungsverfahren kann insbesondere in Situationen am Lebensende oder bei Patienten mit terminaler Erkrankung, Übertherapie und Überversorgung nachhaltig einschränken und eingrenzen.
Überversorgung spielt allerdings nicht nur am Sterbebett eine Rolle, sondern ist in der Medizin generell von erheblicher Bedeutung. Um sie einzudämmen, hat die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM), in Anlehnung an vergleichbare Aktivitäten in Großbritannien und den USA, Initiative namens „Smarter Medicine“ lanciert. Ziel ist es, häufig verordnete, aber vielfach unnütze medizinische Maßnahmen auf eine schwarze Liste zu setzen. Abgeraten wird darin etwa von einem Prostatakrebs-Screening, ohne dem betreffenden Mann die Risiken einer Übertherapie vorher eingehend erklärt zu haben. Derartige Vorgaben wären auch beim Brustkrebs-Screening oder in der Kardiologie sinnvoll.
Auch auf diesem Feld kann ein konsequent etabliertes Zweitmeinungsverfahren vor entsprechenden medizinischen Prozeduren den Patienten zu einer aufgeklärten und rationalen Entscheidung befähigen und vor wachsender Übertherapie auch in diesen Bereichen schützen.
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